Hallo beisammen,

Ich habe mir in einem Wahnsinnsanfall bei ebay frisch eine Bodenstanduhr zugelegt:

Der Korpus spricht eindeutig die Formensprache des Frühklassizismus oder Zopfstils, Ende 18./Anfang 19. Jahrhundert, mit Kanneluren, Blattstab, Kranzmotiven.
Das Uhrwerk ist signiert J. M. Henggeller a. München. Henggeller lässt sich in div. Quellen zwischen 1781 und 1813 (bevor als er nach einer erfolglosen Bewerbun zum bay. Hofuhrmacher nach La Chaux-de-Fonds ging) in München nachweisen. Siehe z.B. trustedwatch.de/wissen/persoenlichkeiten oder Muc-Uhrmacher-Verz. Schien also alles bestens zusammenzupassen. Daher konnte ich gar nicht anders, als sie aus dem fernen Niedersachsen zurück in ihre alte Heimat zu holen!


Bei erster Betrachtung des (noch total verdreckten) Werks komme ich allerdings aus dem Staunen nicht mehr heraus, scheint es doch eine höchst bewegte Geschichte hinter sich zu haben.
Zunächst ist da die Brocot-Hemmung. Das passt nun überhaupt nicht mehr zu Henggeller, wurde sie doch erst 13 Jahre nach seinem Weggang aus München überhaupt erfunden! Offenbar also das Ergebnis eines späteren Umbaus(?).

Überhaupt das Pendel: Sie hat ein Sekundenpendel (was ich beim Kauf nicht wusste, was mich aber riesig freut, weil ich immer schon eine Sekundenpendel haben wollte). Die Höhe des Fensterchens in der Tür und Relikte früherer "Ohrwaschel" am Kasten verraten ein ursprünglich deutlich kürzeres, dafür aber weit ausschwingendes Pendel:

Das Sekundenpendel hat hingegen dank der Brocot-Hemmung eine so kleine Amplitude (nur ca. 1,5° !), dass es auch ohne Ohren in den extrem schmalen Kasten passt. Also gehören Korpus und Werk doch nicht usprünglich zusammen?
Dafür hat auch das Werk einige Umbauten über sich ergehen lassen: Es ist ein sehr massives Regulatorwerk ohne Schlagwerk:

Das Schlagwerk hat man ihr offenbar genommen, denn beide Platinen sind geradezu perforiert mit Dutzenden(!) ungenutzter Bohrungen unterschiedlichsten Durchmessers. Manche mit, manche ohne Ölsenkungen. Einige davon sind in beiden Platinen fluchtend, so dass sie einst Wellen des fehlenden Schlagwerks aufgenommen haben dürften, viele andere degegen erscheinen total willkürlich und fluchten auch nicht in beiden Platinen. So etwas irres habe ich noch nie gesehen:

Bei den leeren Lagern auf der linken Seite mag man ja noch an die Räderkaskade eines Schlagwerks denken (wenn auch mit sehr geringen Achsabständen). Rechts herrscht dann aber totale Willkür.

Und auf der Vorderseite finden sich hier am rechten Rand viele geradezu mikroskopisch kleine Bohrungen in engem Abstand, dass es aussieht, als habe ein wildgewordener Lehrling die Platine als Bohrübung missbraucht.
Seltsam ist auch, dass ich nirgendwo erkennen kann, wo überhaupt jemals eine zweite Aufzugswelle bzw. Seiltrommel für ein Schlagwerk untergebracht gewesen sein könnte.

Was mag da geschehen sein? Hat jemand die Henggeller-Platinen in Zweitverwendung zu einer Sekundenpendeluhr umgebohrt? Da ganzen Platinen als Bohrplatte zum Üben verwendet? Oder was für Werkteile mögen in den vielen winzigen Lagern gesteckt haben? Hat jemand von Euch schon mal so etwas gesehen?

Die größte Überraschung kam jedoch, als ich mir aus den Zähnezahlen die Übersetzung und Gangdauer ausrechnete, insgeheim auf wenigstens 8 Tage hoffend: Bei einfachem Seil ohne Umlenkrolle sind es über 40 Tage! Einen Monatsläufer hatte ich mir schon immer gewünscht! Und mit Umlenkrolle am Gewicht wären es sogar drei Monate, genug, um die Semesterferien durchzulaufen...

Ich bin hin und hergerissen, ob ich einer verbastelten Chimäre aufgesessen bin, oder mit einem Sekundenpendel-Monatsläufer im Uraltkorpus einen unerwarteten Glücksgriff getan habe. Ich begeistere mich jedoch zusehens dafür! Zumindest dürfte das Ding in dieser Form ziemlich einzigartig sein...

Moritz


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Hallo Moritz!

Tja, wenn die Uhr erzählen könnte Auf jeden Fall ist da viel passiert, was man letztendlich wohl nie auflösen kann. Schlagwerk möglich, aber das Zifferblatt hat nur einen Aufzug. Muss allerdings auch nicht das Originalzifferblatt sein. Und was die Signatur des Werkes angeht: Die könnte original oder auch nachgemacht sein. Aufschluss würde da ja nur der Vergleich mit einem garantiert authentisch von Herrn Henggeller signierten Werk geben.

Am besten du akzeptierst die Uhr einfach so wie sie jetzt ist

Viel Spaß bei der Überholung!
Markus

Zitat von Nippon-Fan im Beitrag #2

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Und was die Signatur des Werkes angeht: Die könnte original oder auch nachgemacht sein.

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Zitat von Nippon-Fan im Beitrag #2

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Am besten du akzeptierst die Uhr einfach so wie sie jetzt ist

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Zitat von Nippon-Fan im Beitrag #2

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Viel Spaß bei der Überholung!

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Zitat von Bierjunge im Beitrag #1

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So etwas irres habe ich noch nie gesehen:

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Inzwischen hatte ich die Zeit, mich um die Uhr zu kümmern. Was definitiv nicht original war: Das Werk saß auf einer quer ins abnehmbare Kopfstück des Gehäuses eingeleimten Latte:



So ist ein vernünftiges Ausrichten und Einstellen kaum möglich, außerdem könnte das Pendel nur vollkommen blind eingehängt werden, was nahezu unmöglich ist, da man weder von den Seiten noch von hinten Sicht darauf hätte. Ich habe daher einen Werkstuhl gebaut, der einen Einbau und ein Ausrichten des Werks getrennt vom Kopfstück erlaubt:



Auch am Walzenrad zeigen sich, wie an den Platinen, diese willkürlich angeordneten Bohrungen und Senkungen. Damit ist zumindest die ursprüngliche These endgültig vom Tisch, bei diesen ganzen leeren Lagern handle es sich um Relikte später zurückgebauter Kadraturen. Haben sich Messingwürmer durchs Werk gefressen? Vielleicht sind ja schon seinerzeit zum Bau Messingplatten verwendet worden, die bereits verbohrt waren?



Wie auch immer, das beim Kauf heillos verstaubte und verdreckte Werk zeigte sich nach der Zerlegung in überraschend gutem Verschleißzustand. Die Lager von Steig- und Kleinbodenrad waren bereits früher ausgebüchst worden; insbesondere Zapfen und Paletten waren ohne sichtbare Einlaufspuren. Nach einer behutsamen Reinigung glänzt und läuft sie wieder:



Ein klitzekleines Video von der Hemmung:

Letzte kleine Nacharbeit:
Das Schloss im Uhrenkasten war völlig korrodiert. Ob es daran oder am falschen Schlüssel lag, dass es sich nicht mehr schließen ließ, ist unerheblich.



Da alles vernietet ist, und ich Angst hatte, dass beim bloßen Versuch, es zu zerlegen, alles zu einem Häufchen Roststaub zerbröselt, habe ich mich erstmals an elektrolytischems Entrosten versucht:



Da wäre wahrschienlich noch mehr gegangen, aber so kann man es (nach Fetten und Konservieren) erst mal wieder einbauen, ohne sich dafür schämen zu müssen. Einen passenden Schlüssel konnte ich aus einem Möbelschlüssel-Rohling zurechtfeilen, so dass es jetzt wieder tadellos schließt. Kann so die nächsten 250 Jahre bleiben.



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Hallo Moritz,

Mit welchem Elektrolyt und welchen Stromstärken hast du gearbeitet?

Gruß Werner

Nach Gefühl einen Esslöffel Soda auf geschätzt einen guten Liter Wasser. Stromstärke habe ich gar nicht gemessen, sondern einfach das 12 V Batterieladegerät für einen Tag drangehängt. Etwas hemdsärmelig zwar, aber hat bestens funktioniert.

Moritz