Hallo.

Wie fleissige Leser des Forums wissen, wirke ich mit im Team der Hessischen Uhrmacherschule im Freilichtmuseum Hessenpark. Direkt gegenüber ist das Turmuhrenmuseum und etwas versteckt dahinter ist die historische Turmuhrenwerkstatt Ritzert. Und dort steht seit Jahren das letzte von Ritzert 1914 erbaute Turmuhrwerk als Dauerleihgabe der Eigentümerfamilie.

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Das Uhrwerk war jahrelang auf einem Dachboden abgestellt gewesen und dort übel verrostet. Im Lauf der Zeit war es dann bei VDO in der Lehrlingswerkstatt aufbereitet worden, d.h. alle Teile wurden gesandstrahlt, lackiert und so gut wie es ging wieder zusammengebaut. Leider fehlte dabei jegliche störende Fachkenntnis, die bei Ritzert eigentlich für ihre Position markierten Schrauben wurden vertauscht, die Hebeflächen verblieben strahlrau, die blanken Teile wurden mit Silberbronze lackiert, die Triebe zu stramm montiert so dass sie klemmten, ...

Turmuhrenspezialist Christian Borck, der damals die Turmuhrenwerkstatt in den Hessenpark gebracht hat, wollte nun endlich das bisher nicht gangfähige Uhrwerk in Funktion versetzen. Mein Interessengebiet ist ja eigentlich Uhrmacherei an komplizierten Kleinuhren, aber wenn ich Gelegenheit habe über den Tellerrand zu blicken und etwas dazu zu lernen bin ich natürlich dabei. Ich habe ihm daher angeboten, ihm zur Hand zu gehen, um mir vielleicht den einen oder anderen Trick abschauen zu können. Leider verlief das dann doch anders. Hier sein Bericht:

Guten Tag zusammen

Zum gestrigen Einsatz an der letzt gebauten Ritzert Uhr von 1914 in der Ritzert Werkstatt, Leihgabe Familien Brehm / Pfau.

Zunächst Danke an Herrn Rehm für Leiter, Strom, den Eisenrohling und das Angebot weiterer Hilfe. Danke auch an Norbert Schulz von der hessischen Uhrmacherschule, der mich unterstützte und während des Tages mit den Maschinen der HUS aus dem Rohling den Grundkörper für den Schöpfer, das Antriebsrad der Schlagwerksteuerung fertigte.

Für die Nachfahren diese Mail im Weiteren ausführlich, damit sie den Status kennen.

Zur Uhr:

Gangwerk:

Das Seil des Gangwerkes wurde komplett abgelassen und an der Seilklemme abgenommen um die Walze demontieren zu können.

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> Die Klemung etlicher Achsen wurde durch Unterlegen von je einer Scheibe der drei Schrauben an der rechten vorderen Rahmenecke behoben. Dies vermied Eingriffe in drei bis vier (oder mehr) Lagern, die sonst hätten ausgefeilt werden müssen.

> Zu den sehr schwergängigen Schrauben wurde erkannt, dass die Lehrwerkstatt seinerzeit die Gewinde nicht gereinigt hatte – die Farbe war drin. Das habe ich gestern mittels einer Bohrmaschine mit rotierender dünner Stahlbürste an mehreren Gewinden beseitigt.

> Die Schraube 1 vorne links ging nach wie vor schlecht und der Spiegel ergab, dass sie innen t.w. zu tief in den Rahmen tauchte, über das Ende des Sacklochs hinaus. Ich habe mir erlaubt, 2 Gewindegänge zu kürzen, seitdem ist es ok.

> Die ausgebaute Walze offenbarte, das die Feder für’s Gegengesperr fehlt, dass also beim Aufziehen der Uhr keine Kraftreserve für den Fortgang der Uhr da ist. Hier, im musealen Einsatz, ist das kein Hindernis die Uhr in Betrieb zu nehmen, da aufgrund der geringen Fallhöhe das Aufziehen schnell erledigt ist – solange schwingt das Pendel weiter.

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> eine passende Feder für die Walzensperrklinke wurde in der Werkstatt gefunden. Ob sie von einer der ausgestellten Uhren stammt (würde in beide nicht passen) oder aber für diese Uhr gemacht wurde, kann man nicht nachvollziehen. Ein kleiner Umbau bzgl. eines Stiftes – und Form und Funktion passte. Beim Aufziehen der Uhr läuft man nicht mehr Gefahr, das Gewicht lose an der Kurbel zu haben...

> Die in die Lager eintauchenden Achsenenden, die Zapfen, wurden alle mit sehr feinem Schmirgel und Polierleinen bearbeitet, um die Reste des Sandstrahlens und des langen Stillstands zu beseitigen. Nach Säuberung wurden sie gefettet wieder eingesetzt.

> Nach Montage wurden die Hemmradzähne bzw. deren Spitzen gefettet, denn auch die Ankerpaletten wurden sandgestrahlt und sind rauh. Ich möchte aber kontinuierlichen Gang erziehlen.

> Mittels Federzugwaage ermittelte ich den Kraftaufwand: nur 6kp für’s Rotieren der Wellen. Ich musste natürlich erhöhen: Reibung des nicht senkrechten Seils am Holzschrank *, Reibung am Anker, Reibung an den Umlenkrollen...ergab 12kp. Dazu dann nochmal eine Reserve zum Anheben der Kurbel (es kann passieren, dass sie nach dem Aufziehen steckengelassen wird) und zum Anheben des Hebelwerkes für den Schlag. Jetzt wiegt das Gewicht ca. 14kp. Nicht schlecht gegenüber fast schon zerstörerischen ca. 40kp im Alltagsbetrieb einer Ritzert.

> Die eingefüllten Gewichte stammen aus einem Reifenbetrieb, der mir in solchen Fällen kostenlos hilft – muss man nur hin und holen.

> Der Gewichtseimer des Gangwerks ist wieder verschlossen; die Seilbefestigung ergänzte ich um eine Seilkausche um eine Beschädigung des Seiles zu verhindern (Eimer jetzt ja mit Gewicht).


Das Gangwerk ist somit lauffähig und kann am Tag des DGC Besuches angestellt werden; das mache ich dann.

> die Spuren von Holzmehl am Tag der Uhrmacherei an einem Hebel unter dem vorderen rechter Dachbereich des Schrankes, zeugen von aktivem Holzwurmbefall, dem rückte ich gestern mehrfach von unten mit entsprechenden Injektionen von Holzwurmtod zu Leibe; von oben habe ich großzügig eingepinselt.

* der am zusätzlichen Deckenbalken äusserste linke Haken müsste 18cm weiter nach rechts neu eingebohrt werden, um einen senkrechten Seillauf herzustellen. Bild 1368. Dies ist mir gestern nicht gelungen, obwohl ich alle Werkzeuge mithatte. Meine gerisse Sehne in der linken Schulter machte – zumal auf der Leiter stehend – das nicht mit.


Schlagwerk:

> Während Norbert am Schöpfer zugange war, konnte ich den Freilauf der Schlagwerksachsen und der Hammerfühl- und zughebel herstellen; Methoden s.o.

> Leider gelang es nicht, eine weitere Feder für die fehlende am Walzenrad in der Werkstatt zu ermitteln, weder die 1860er vom Rathaus Dieburg (zu kurze Federn) noch die 1871 von St.Peter & Paul in Dieburg (zu lange Federn aufgrund wesentlich größerer Zahnräder) konnte als Ersatzteilspender bzw. als Vorlage dienen. Die Feder muss individuelle angefertigt werden. Spiegelbildlich zum Gangwerk.

> Die fehlende Gewindesäuberung hat wohl auch dazu geführt, dass die rechte Schraube der Schlagwerk-Zwischentriebachse gebrochen ist. Ich habe sie erstmal so gelassen; sie muss ausgebohrt werden - so dass bei den nicht normalen Anzugs-Drehmomenten von VDO überhaupt möglich ist und dann ein Ersatz gesucht oder angefertigt werde

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> Erst kurz vor Schluss (18:00 ist Schlüsselabgabe) entdeckte ich eine interne Klemmung zwischen Walzenrad und Walze. Das heisst auch hier Ablassen des Seils, Ausbau der kompletten Achse, Demontage, Fehlersuche etc.

> Der nachgebaute Schöpfer muss durch Feilen der Zahnspitze angepasst werden und wird dann die Kulissenscheibe antreiben.


Somit ist auf jeden Fall ein nochmaliger Termin notwendig., dann aber kann eine Ritzert in Funktion gesehen werden. Es ist mir in dem Zusammenhang unerklärlich, dass ich in all den Jahren bei meinen bisherigen Besuchen da nicht drauf geachtet habe.

Es war seltsam aber auch schön, zig Jahre nach dem letzten Meister an seiner Werkbank zu stehen und mit seinem Schraubstock die gleichen Arbeiten auszuführen. In dem Sinne,

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mit tickenden Grüßen

Christian Borck


Statt daneben zu stehen, zu helfen und mir was abzuschauen wie ich das geplant hatte, konnte ich mein loses Mundwerk nicht halten und habe mich in hoffnungsloser Selbstüberschätzung angeboten, "mal schnell" den fehlenden Schöpfer zu machen. Den Rest vom Tag habe ich dann den verflixten Innenvierkant gefeilt, das Teil dann mit nach Hause genommen um den Zahn zu fertigen und hart einzulöten, um dann bei einem weiteren Besuch im Hessenpark das Teil in die Uhr einzupassen. Hier das Ergebnis:

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Die Uhr läuft jetzt und wurde anlässlich des Besuchs der DGC Jahreshautpversammlung im Hessenpark erstmals der interessierten Fachöffentlichkeit in tickendem Zustand vorgeführt.

Viele Grüße
Norbert

Wunderbarer Beitrag! Es ist nicht hoch genug einzuschätzen, mit soviel Hingabe habt Ihr diese Großbaustelle wieder in ein strahlendes Meisterwerk verwandelt.